Eine Frage, die in regelmäßigen Abständen und aus unterschiedlichen Disziplinen beleuchtet wird, ist die nach dem grundlegenden Wesen des Menschen. Ist der Mensch dem Menschen Wolf oder im Grunde gut? Für den Jahreswechsel in einer krisenhaften Situation eine relevante Frage, finden wir. Und wir sind ein paar Ideen auf die Spur gekommen.

In seinem bereits 1984 erschienen Buch „The Evolution Of Cooperation“ zeigte Robert Axelrod mit nüchterner spieltheoretischer Beweisführung förderliche Bedingungen für zwischenmenschliche Kooperation auf. Belegt und illustriert anhand menschlicher Geschichten und biologischer Phänomene widersprach er damit in genialer Weise dem vorherrschenden Menschenbild, das vom Kampf um begrenzte Ressourcen ausging – sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht.

Jüngste neurobiologische Beobachtungen legen uns nun ein Bild des Menschen als ein Wesen nahe, „dessen zentrale Motivationen auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet sind“ (Bauer). Das Menschenbild ist sehr wirkmächtig und beeinflusst grundlegend, wie wir auf andere Menschen zugehen und miteinander umgehen. Unser Menschenbild wird geprägt durch Erfahrungen, die wir mit anderen Menschen machen und vor allem durch die Bedeutung, die wir diesen Begegnungen geben. Die Grundüberzeugung, Menschen seien von Natur aus, also aufgrund einer biologische Anlage, auf ihren Vorteil bedacht, lässt Verhalten in einem anderen Licht erscheinen, als die Annahme vom Menschen als einem sozialen und kooperierenden Wesen.

Wir alle sind aufgewachsen mit den Auswirkungen der Darwinschen Erkenntnisse und Lehren im Zusammenhang mit der Entwicklung der Arten (1859). Über den bloßen Selektionsdruck der Arten durch die Anpassung an ihre Umwelt hinaus entwickelte Darwin zwei Grundannahmen, die heute umstritten sind, sich aber als prägend für Anschauungen der folgenden Jahrzehnte und späterer Entwicklungen (auch in der Arbeitswelt) erwiesen: Der War of Nature und der Struggle for Life. Die Arten müssten fortlaufen gegeneinander ums Überleben kämpfen und alleine die Auslese aufgrund dieses Kampfes sei die treibende Kraft für die Entwicklung neuer Arten. Bereits zu Darwins Zeiten gab es die Befürchtung, „Die Menschlichkeit könnte einen Schaden erleiden, der zu einer Brutalisierung der Menschheit führen könnte“ (Bauer). Der Darwinismus versuchte, dem Zusammenleben und den Regeln des menschlichen Miteinanders eine naturwissenschaftliche Grundlage zu geben, eine Grundlage, die die schwerwiegenden und folgenreichen Entwicklungen des beginnenden 20. Jahrhunderts mit bedingte.

Neurobiologische Erkenntnisse legen etwas anderes nahe, nämlich, dass der Mensch grundsätzlich besonders gut für zwischenmenschliche Beziehungen ausgestattet ist. Allerdings gehen diese guten Voraussetzungen verloren, wenn wir sie nicht nutzen. Es ist zu beobachten, dass die gesunde Bindung eine wichtige Voraussetzung für die Fähigkeit und den Antrieb zur Kooperation darstellt. „Gelingende Beziehungen und Kooperation erzeugen Motivation“ (Bauer). Axelrod schrieb in seinem Buch zu diesem Aspekt: „Zum Glück ist für die Evolution der Kooperation keine Freundschaft erforderlich. Wie er anhand eines Beispiel des Stellungskrieges im ersten Weltkrieg verdeutlicht, können selbst Feinde lernen, auf Gegenseitigkeit gestützte Kooperation zu entwickeln. Erforderlich ist nicht Freundschaft innerhalb einer Beziehung, sondern deren Dauerhaftigkeit.“ (Axelrod). Eine gesunde Bindung, wie sie Bauer postuliert, ist sicherlich Garant für eine dauerhafte Beziehung. Insofern ist auch die Beobachtung von Axelrod plausibel.

Es sind auch oft Geschichten, die unser Bild vom Menschen prägen. Rutger Bregman geht der Erzählung vom „Herr der Fliegen“ nach und einer Legende, nach der sich Bewohner der Osterinseln zuerst bekriegten und anschließen verspeisten. In einem realen Fall, in dem 5 Kinder auf einer einsamen Insel strandeten, konnten sie nach 15 Monaten gerettet werden. Sie hatten sich gegenseitig unterstützt und konnten so überleben. Die Geschichte der Bewohner der Osterinseln hatte sich als reine Fiktion herausgestellt. Und doch wirken solche Legenden und prägen unser Bild vom Menschen und unserem Miteinander in schwierigen Situationen und Krisen.

Wie ist der Mensch wirklich? Diese Frage ist so nicht zu beantworten, trotz aller Einsichten, die wir aus verschiedenen Richtungen gewinnen. Wir können uns also für ein Menschenbild entscheiden und damit auch für die Auswirkungen, die mit diesem Bild im Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit anderen Menschen entstehen.

Denn „Mit dem Menschenbild ändert sich alles“, wie Rutger Bregman sagt.


Zum Nach- und Weiterlesen:

Robert Axelrod, The Evolution of Cooperation

Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit

Rutger Bregman, Im Grunde gut